Zwischen Spiritualität und Esoterik – eine Einordnung aus der Sicht des Yoga
Kürzlich hatte ich eine spannende Diskussion mit einem Freund darüber, ob Yoga spirituell oder esoterisch ist. Vielleicht hast du dir diese Frage auch schon gestellt – zum Beispiel, als in einer Yogastunde Begriffe wie Prana (Lebensenergie) oder Chakra (Energiezentrum) erwähnt wurden. Oder als das Om, die heilige Silbe aus dem Sanskrit, gesungen wurde.
Immer mal wieder höre ich, dass genau deshalb manche Menschen Berührungsängste mit Yoga haben – und es als esoterisch einstufen. Das kann ich gut nachvollziehen.
Deshalb möchte ich hier ein paar Gedanken mit dir teilen. Gedanken darüber, was es bedeutet, dass Yoga spirituell ist – aber nicht esoterisch.
Es ist eine feine Linie – denn die Begriffe werden oft fälschlicherweise synonym verwendet. Und ja, einige Menschen, die Yoga praktizieren oder unterrichten, sind auch offen für esoterische Praktiken – was vollkommen legitim ist.
Entscheidend finde ich jedoch, dass man sich des Unterschieds bewusst ist – damit Dinge nicht vermischt oder verwechselt werden.
Was Spiritualität nach meinem Verständnis bedeutet?
Es geht um die persönliche, innere Suche nach Sinn, Verbundenheit, Transzendenz oder dem Göttlichen.
Sie kann religiös oder nicht religiös sein.
Der Fokus liegt auf Bewusstsein, innerem Wachstum, Achtsamkeit und der Verbindung
zu etwas Höherem.
Spiritualität bedeutet für mich persönlich, bewusster zu leben, mich selbst in der Tiefe zu erfahren – und dabei immer wieder zu einer einfachen Wahrheit zurückzukehren:
Ich bin mehr als nur meine Gedanken und mein Körper.
Ich bin eingebunden in etwas Größeres.
Im Yoga begegnen wir dieser Erkenntnis immer wieder: durch den Atem, den Körper, die Stille.
Yoga ist eine Praxis der Erfahrung – nicht des Glaubens.
Die alten Schriften des Yoga, etwa die Upanishaden und später auch die Bhagavad Gita, beschreiben unser wahres Selbst als reines Bewusstsein: sat-chit-ananda – Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit.
Diese Formel stammt aus dem Vedanta und steht für eine nicht-dualistische Sichtweise, in der unser Bewusstsein nicht getrennt, sondern eins ist mit allem.
Während der klassische Yogaweg oft auf einer dualistischen Weltsicht basiert, erfahren viele Menschen Yoga heute dennoch als einen Weg zu innerer Einheit und Verbundenheit.
Wenn ich praktiziere, spüre ich eine tiefe, stille Verbundenheit – mit mir selbst und mit allem, was lebt. Genau diese Erfahrung ist für mich Spiritualität.
Und was ist Esoterik?
Nach meinem Verständnis geht es in der Esoterik eher um verborgenes, geheim gehaltenes oder gedeutetes Wissen – um mystische und alternative Weltanschauungen.
Ich würde Themen wie Astrologie, Aura-Lesen, Heilversprechen und ähnliche Konzepte der Esoterik zuordnen. Esoterik beginnt für mich dort:
wo spirituelle Begriffe in Heilsversprechen oder mystische Wunder verwandelt werden,
wo Rituale und Glaube wichtiger werden als die eigene Erfahrung,
wo alte Quellen entweder fehlen oder aus dem Zusammenhang gerissen werden.
Oft ist der Begriff negativ behaftet – meine Einordnung ist jedoch nicht wertend gemeint. Ich habe persönlich nichts gegen Esoterik, würde mich selbst jedoch nicht als esoterische Person bezeichnen.
Mir geht es um die Abgrenzung: Yoga ist im Kern nicht esoterisch – auch wenn es manchmal so interpretiert wird.
Was ist dann mit Prana, Chakren & Co.?
Wenn wir im Yoga von Energie sprechen, meinen wir damit nicht Energie im physikalischen Sinn, sondern ein erfahrbares Prinzip: eine innere Lebendigkeit, eine feine Qualität des Daseins. Begriffe wie Prana beschreiben diesen Aspekt – sie sind Ausdruck einer gelebten Verbindung zwischen Atem, Körper, Geist und Bewusstsein.
Im Yoga sprechen wir von Prana – der Lebensenergie – und von Chakren, den Energiezentren im Körper.
Diese Begriffe sind Erklärungsmodelle. Sie versuchen, etwas zu beschreiben, das sich mit Worten nur schwer ausdrücken lässt. Yoga ist ein philosophisches System, ein Versuch, die Welt – und unser Inneres – zu verstehen. Viele dieser Begriffe sind symbolische Konzepte, keine physikalisch beweisbaren Tatsachen.
Die Chakren etwa stehen für Bewusstseinszustände oder innere Entwicklungsebenen. Sie sind wie Landkarten innerer Erfahrung – Werkzeuge zur Selbstreflexion.
Es geht um innere Begegnung und um Bewusstsein. Schon in tantrischen Texten wird diese symbolische Bedeutung betont. Chakren beschreiben psychospirituelle Ebenen – keine anatomischen Realitäten.
Wenn wir über Pranayama (Atemtechniken) sprechen, wird es etwas komplexer:
Zum einen gibt es die grobstoffliche Ebene, auf der wir mit dem Atem unser Nervensystem beeinflussen können – das ist heute wissenschaftlich gut belegt und eine wunderbare Möglichkeit, aktiv auf unser Befinden Einfluss zu nehmen.
Auf der feinstofflichen Ebene des Pranayama geht es nicht darum, Energie physisch zu lenken, sondern darum, den Atem als Brücke zwischen Körper und Geist zu erfahren – zwischen Präsenz und innerer Ruhe.
Es geht um Selbstwahrnehmung, um Bewusstseinserweiterung – in einem ganz bodenständigen Sinne: Den Moment wahrnehmen, den Geist beruhigen, sich selbst spüren. Dabei kann man natürlich auch mit Affirmationen arbeiten. Und ja – vielleicht öffnet sich dadurch ein innerer Raum, in dem sich schwierige Themen oder Gefühle zeigen und sogar heilen dürfen.
Diese Erfahrungen sind individuell – sie entstehen durch Präsenz.
Und vielleicht denkst du jetzt: „Bewusstseinserweiterung – klingt das nicht auch irgendwie esoterisch?“
Meiner Meinung nach: Nein.
Der Begriff bedeutet lediglich, dass wir mehr wahrnehmen:
von uns selbst,
von unserer Umgebung,
von unseren Gedanken – und von dem, was dahinter liegt.
Vielleicht erkennen wir Muster. Vielleicht spüren wir uns selbst deutlicher – körperlich, emotional, geistig. Vielleicht fühlen wir uns verbunden – mit dem Leben, mit anderen Menschen, mit der Natur, mit dem grossen Ganzen.
Es geht dabei um Klarheit, Präsenz und inneres Wachstum – nicht um den Zugang zu anderen Dimensionen, übersinnliche Fähigkeiten oder Kontakte mit „höheren Wesen“. Auch das können spannende Themen sein – aber sie gehören nicht zum Yoga.
Und nun – was ist denn Yoga?
Yoga ist kein Glaube – sondern ein Erfahrungsweg.
Eine Einladung, still zu werden, sich selbst zu begegnen und mit dem Leben auf einer tieferen Ebene in Kontakt zu treten.
Es geht darum, sich bewusst zu erleben – und zu erkennen:
Wir sind nie wirklich getrennt.
Wir sind immer verbunden – mit uns selbst, miteinander, mit allem Leben.
Yoga ist ein Weg zu mehr Bewusstsein, mehr Verbindung – und kann zu mehr innerer Freiheit führen.
Ich glaube, dass wir mehr sind als unsere Gedanken – aber wir müssen nichts glauben, um das zu erfahren.
Wenn du Gedanken oder Fragen zu diesem Thema hast – schreib mir gerne. Ich freue mich auf den Austausch.
Herzliche Grüsse, Claudia
„Der wahre Weg ist ohne Ziel. Er ist der Weg der Entdeckung des Unbekannten, des Unsichtbaren, des Göttlichen in dir.“
– B.K.S. Iyengar